DIE VIERERKETTE – SINNVOLL IM AMATEURFUSSBALL?
Im Profifußball haben die Viererkette und teilweise auch die Dreierkette schon längst den Durchbruch geschafft. Tatsächlich spielt in den höchsten Spielklassen keine einzige Mannschaft mehr mit einem klassischen Libero. Doch nicht nur im Spitzenfußball wird auf diese Taktik verzichtet. Auch im Amateurfußball trifft man nur noch vereinzelt auf Mannschaften, die noch nicht mit einer Viererkette agieren. Dieser Gastbeitrag von Florian Sturm soll über Sinn und Unsinn des Liberos aufklären.
Die Geschichte des Liberos
Bereits in den 1970er Jahren erlebte die Position des Liberos ihren großen Durchbruch und war bis in die späten 1990er Jahre in aller Munde. Anders als heute bei Defensivspezialisten üblich, bekam der „letzte Mann“ so viel Aufmerksamkeit, dass Spieler wie Beckenbauer, Matthäus und Sammer zu weltbekannten Namen wurden. Hervorragendes Stellungsspiel und ausgezeichnetes Zweikampfverhalten waren die Markenzeichen solcher Spieler. Doch der Libero hatte noch mehr Aufgaben: Dadurch, dass er keinem festen Gegenspieler zugeordnet war, konnte er sich auch immer wieder in die Offensive einschalten und für Überzahlsituationen im Mittelfeld sorgen. Er sollte das Spiel lesen, von hinten heraus Bälle verteilen und das Aufbauspiel organisieren. Die Position des Liberos brachte die Superstars dieser Zeit hervor und machte sie über Jahrzehnte hinweg zu den Quarterbacks des Fußballspiels! Verantwortlich für die starken Stürmer der Gegner, stand und fiel eine Mannschaft mit der Leistung des Liberos. Damals wäre es undenkbar gewesen, dass diese Spielerzunft jemals aussterben könnte!
Taktiktrends der späten 80er Jahre bis heute
Obwohl es bereits damals diverse Mannschaften gab, allen voran Ajax Amsterdam, die bereits mit modernen taktischen Mitteln agierten, etablierte sich Ende der 80er Jahre vor allem die Raumdeckung großflächig im Profibereich. Das bedeutete weniger Mann gegen Mann und mehr Wert auf dem zirkulierenden Ball und einem Stellungsspiel gegen den Ball. Gleichzeitig stellten viele Mannschaften vom Cruyff´schen 4-3-3 auf die modernere und flexiblere 4-4-2 Taktik um, was die Geburt des offensiven Außenverteidigers zur Folge hatte. Das Fußballspiel wurde nun mehr über die Breite des Spielfelds ausgetragen und die Flügelpositionen immer wichtiger. Die schnellen Stürmer, die auf Bälle in die Tiefe warteten, sollten nun nicht mehr von einem Libero abgelaufen oder über einen Zweikampf gestoppt werden, sondern von der Verteidigungskette ins Abseits gestellt werden. Die Mischung dieser taktischen Stilmittel sorgten schließlich dafür, dass der Libero und mit ihm die klassische Manndeckung mehr und mehr von der Bildfläche verschwanden, und heute so gut wie nicht mehr zu sehen sind.
"Die Viererkette ist nur dann erfolgreich, wenn die Abstimmung gegeben ist, Abstände eingehalten und Grundregeln befolgt werden."
Die Viererkette bestimmte von nun an das defensive Geschehen im Weltfußball. Die Taktik war zwar keineswegs neu, in Brasilien spielten einige Vereine bereits in den 1950er Jahren mit diesem Abwehrsystem, doch in Europa war die Viererkette erst durch diese taktischen Neuerungen attraktiv geworden. Der Innenverteidiger wurde im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem Manndecker, mehr an seinen gruppentaktischen Qualitäten als seiner individuellen Klasse gemessen – Wobei diese nach wie vor eine große Rolle spielt. Die Viererkette ist nur dann erfolgreich, wenn die Abstimmung der beiden Innen- und Außenverteidger gegeben ist, Abstände eingehalten und Grundregeln befolgt werden. Als in Deutschland Mitte der 1990er Jahre die Viererkette zum Maß aller Dinge wurde, funktionierte das System so gut, dass die Stürmer immer weniger zum Zug kamen. Es fielen deutlich weniger Tore als noch in den Jahren zuvor und die Ergebnisse wurden immer knapper.
Schon bald wurde aber auch das passende taktische Mittel gefunden, um „hinter die Viererkette“ zu gelangen. Der extrem aufrückende Außenverteidiger, sollte über die Flügelposition Überzahlsituationen schaffen. Die Stürmer, die nun mehr mit Robustheit, Handlungsschnelligkeit und Kopfballspiel, als mit reiner Schnelligkeit brillierten, konnten nun mit Flanken gefüttert werden und so gefährliche Torchancen kreieren. Die Perfektion dieses Verhaltens führte dazu, dass die Doppelsechs auf dem Vormarsch war und immer seltener mit zwei Stürmern gespielt wurde, um diese neue Taktik besser verteidigen zu können.
Dieser geschichtliche Exkurs soll lediglich den Weg zum 4-2-3-1, was heute als modernstes Spielsystem gilt, aufzeigen. Um die Frage, nach dem Sinn eines Liberos im heutigen Amateurfußball zu beantworten, ist einige Vorüberlegungen notwendig.
Die Profis machen es vor, die Amateure nach
Das angesprochene 4-2-3-1 sieht man jeden Sonntag auf tausenden Amateurfußballplätzen in Deutschland. Fast jede Mannschaft spielt in diesem System. Doch nur die wenigsten Trainer und Spieler werden sich fragen, ob diese Taktik denn auch wirklich sinnvoll ist. Wenn die Profis so spielen, kann es schließlich nicht so verkehrt sein. Dabei wird jedoch gerne vergessen, dass Profispieler über ganz andere technische und taktische, sowie physische und mentale Fähigkeiten verfügen. Sie verbringen viel mehr Zeit auf dem Trainingsplatz, als es im Amateurfußball möglich ist.
Kürzlich bin ich mit meiner Mannschaft in der Kreisliga gegen den großen Aufstiegsanwärter angetreten. Unser Gegner tritt üblicherweise im eben genannten System an und strebt stets danach, wie Profis spielen zu wollen: Mit viel Ballbesitz, vielen Pässen, weit herausrückender Verteidigung und voller Kontrolle über das Spiel. Das machen Sie, auf diesem Niveau, auch wirklich stark. Doch wäre es wohl klüger gewesen, nicht an diesem Stil festzuhalten: Volle 90 Minuten war es im Grunde ein Spiel auf ein Tor – auf unseres. Wir wollten hinten mit 10 Mann verteidigen und einzig und allein über unseren Stürmer – der mit Abstand schnellste in der Liga – zu Kontermöglichkeiten kommen. Am Ende gingen wir mit 6:1 als Sieger vom Platz.
Dieses Spiel war sinnbildlich für meine These, dass der Profi- und der Amateurfußball taktisch nicht zu vergleichen sind. Hätte der Gegner statt mit den, aus dem Profibereich bekannten, großen, schlaksigen Innenverteidigern, mit einem schnellen, zweikampfstarken Libero gespielt, wäre das Ergebnis mit Sicherheit ein anderes gewesen. Natürlich war auch des Gegners Torhüter kein Manuel Neuer, der unsere Konter hätte unterbinden können.
Damals wie heute: Libero gegen schnelle Stürmer
Wenn man bedenkt, dass besonders im Amateurbereich nicht immer so gut trainiert werden kann, wie sich die Trainer das wünschen, muss man den Libero als Alternative zumindest im Hinterkopf behalten. Mal ehrlich: Will ich heute das Abwehrverhalten der Viererkette trainieren, so habe ich als Trainer einer Amateurmannschaft mit Sicherheit nie alle Defensivspieler im Training zur Verfügung. Es kann also gar nicht gewährleistet werden, dass die Abstimmung der Kette passt. Das bekommt man zwar sicher mit der Zeit noch hin, doch es gibt noch mehr Faktoren, die den Einsatz eines klassischen Liberos sinnvoll machen können: Nicht selten wird im Amateurbereich ohne Linienrichter gespielt. Der Schiedsrichter wird dadurch extrem gefordert und kann in der Hektik, die auf Amateurfußballplätzen herrscht, gar nicht immer auf Ballhöhe sein. So kann es natürlich auch zu der Situation kommen, dass die Abseitsfalle der Viererkette perfekt gespielt wird, der Schiedsrichter das aber schlichtweg übersieht und der gegnerische Stürmer einen Alleingang auf unser Tor bekommt. Ebenfalls sollte ganz klar sein: Kein Amateurfußballer wird den offensiven Sinn einer Viererkette, nämlich den offensiven Außenverteidiger, über 90 Minuten so spielen können, wie es bei den Profis der Fall ist! Beispielsweise legt ein David Alaba auf dieser Position nicht selten eine Laufstrecke von 16 Kilometern pro Spiel zurück – zum größten Teil in 40-60 Meter Sprints. Man kann dies ganz einfach mal im Training testen, wie lange das die eigenen Außenverteidiger durchhalten.
Wenn Viererkette, dann bitte richtig!
Im letzten Abschnitt dieses Artikels möchte ich nun meinen Appell an alle Nachwuchstrainer richten: Es ist gut und richtig, wenn man auch im unterklassigen Bereich mit der Zeit geht! Allerdings sollte man auch immer kritisch hinterfragen, ob es für die eigene Mannschaft Sinn macht, eine bestimmte Taktik aus dem Profibereich zu übernehmen oder nicht. Es sollten stets beide Seiten der Medaille betrachtet werden!
"Sei stets kreativ und hab bei deinen Ideen immer die Fähigkeiten der eigenen Mannschaft, aber auch die der Gegner im Hinterkopf."
Beispielsweise sollte man nicht den offensiven Sinn des aufrückenden Außenverteidigers predigen, wenn diese Anforderungen einfach kein Amateurfußballer in dem Maße erfüllen kann, wie es im Profifußball üblich ist. Will man im Amateurfußball auf längere Sicht erfolgreich sein, so ist es absolut von Vorteil, wenn man die Trends aus dem Profibereich stets im Auge hat und diese als Inspiration, jedoch nicht als verbindlichen Ansatz nutzt. Niemand kennt Deine Mannschaft so gut wie Du! Finde immer wieder neue Mittel, die Deiner Mannschaft liegen und gerecht werden. Wenn Du es klug findest, mit 4 Stürmern zu spielen, dann mach es – auch wenn Jose Mourinho dies nie tun würde! Wenn Du davon überzeugt bist, dass der klassische Libero die richtige Wahl ist, dann mach es – auch wenn Pep Guardiola die Hände übers Gesicht schlagen würde. Sei stets kreativ und hab bei Deinen Ideen immer die Fähigkeiten der eigenen Mannschaft, aber auch die der Gegner, im Hinterkopf!
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Florian Sturm. Falls dir beim Lesen Taktiken für dein eigenes Team eingefallen sind, geht’s hier zum planet.training Taktikmanager.
Euer planet.training Team